Ein bißchen Menschenfeindlichkeit gibt es nicht

Seit Monaten zeigen Umfragen, dass die Menschen in Deutschland Themen wie der Pflegenotstand, der Mangel an günstigem Wohnraum oder die Zukunft der Bildung umtreiben. Dennoch ließ Jens Spahn, der als Gesundheitsminister die Hauptsorge „Pflege“ verantwortet, am Mittwoch verlautbaren, das Ticket zum CDU-Vorsitz sei die Flüchtlingsdebatte. Sein Konkurrent Friedrich Merz erzählte zwar zur gleichen Zeit, er wolle den Leuten zuhören, ließ dann aber die Gelegenheit verstreichen, mit dem dokumentierten Interesse an anderen Themen zu punkten. Das zeigt: Hören auf den Bürgerwillen ist derzeit nur eine hohle Phrase.

GroKo: Wir müssen den Leuten zuhören.
Leute: Wir brauchen bezahlbaren Wohnraum, wohnortnahe medizinische Versorgung und Maßnahmen gegen den Klimawandel.
GroKo: Ah, Flüchtlinge!

The End.

Stattdessen ernten wir die Saat, die AfD und rechte Initiativen in den vergangenen Jahren gesät haben, um den Diskurs zu vergiften. Wir haben sie solange reden lassen und ihrer Menschenfeindlichkeit zugehört, dass es kaum noch denkbar scheint, dass die Meisten in diesem Land andere Ansichten haben.

Klar könnte wir weiter über Flüchtlinge reden. Über die mehr als 1500 Flüchtenden, die alleine in diesem Jahr im Mittelmeer umgekommen sind. Über die rund drei Millionen Flüchtlinge, die in der Türkei trotz Milliardenzahlungen oft obdachlos sind. Über die tödlichen Grenzen in Afrika, für die die EU ebenfalls Milliarden ausgibt. Das ist natürlich nicht gemeint. Vermutlich eher Fragen, ob diese Geflüchteten nicht doch alle Kriminelle seien, dass wir noch mehr von ihnen in Lager sperren sollten und am Besten gleich alle abschieben müssen. Kurz: menschenverachtende Fragen.

Aber „ein bißchen Menschenfeindlichkeit“ gibt es nicht. Einmal aus der Flasche gelassen, sickert sie durch alles hindurch. Wer anfängt, einige Menschen auszuschließen und dabei ihren Tod in Kauf nimmt, hat jeglichen Anstand und Respekt vor Menschenleben schon verloren. Jedes einzelne Leben als Kollateralschaden wäre schon zuviel und mit tausenden Toten sind wir darüber lange hinweg. Wo sollte man dabei aufhören? „2000 Tote im Mittelmeer sind im Jahr genug, dann probieren wir etwas anderes“. Nein. Bei dieser Politik gibt es keine Obergrenze, sie nimmt die Toten einfach hin, bis keiner mehr über bleibt.

Die Sorgen um Klimawandel, Wohnraum und Pflegenotstand sind keine Luxusprobleme, sondern um die Erfüllung von Grundbedürfnissen. Sie stehen für die Angst um das eigene Überleben und das unserer Kinder und Enkel. Dass diese Themen hintenan stehen, zeugt im besten Fall von Respektlosigkeit gegenüber der Bevölkerung und im schlimmsten Fall von menschenfeindlicher Verachtung.

„Seit ihrer NSU-Rede, in der sie die Opferangehörigen um Entschuldigung bat, hatte [Angela Merkel] diese rote Linie. Sie sagte niemals mehr etwas gegen Muslime, gegen Türken, irgendetwas, das ausschließend wirken könnte. Diese rote Linie ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Denn Deutschland ist nur komplett mit seinen Muslimen, seinen Juden, seinen Arbeitslosen und FDP-Wählern […]. Wenn Angela Merkel auch als Kanzlerin geht, nimmt sie ihre rote Linie mit.“

Das schrieb Mely Kiyak gerade über das nahende Ende der Ära Merkel. Merkel und ihre rote Linie gehen. Über dem Umgang mit Asylsuchenden bestimmen weiter – entgegen allen Umfragen – Seehofer und Maaßen, die mit dem zutiefst zynischen Begriff „Asyltourismus“ die Grenzen des Sagbaren verschoben haben. Schon jetzt zeichnet sich ab, wohin die deutsche Politik in den nächsten Jahren gehen wird, noch dazu die der christlichen Parteien, und es macht mir Angst. Ein bißchen Menschenfeindlichkeit gibt es nicht.

Eheöffnung für (fast) alle – same procedure as always

Eine Wand mit beleuchteten Ikea-Kisten in Regenbogen-Farben

Im Nebensatz hat Angela Merkel am Montag abend vermutlich endlich eine breite Öffnung der Ehe über „Mann und Frau“ hinaus ermöglicht, doch eine „Ehe für alle“ ist damit nicht automatisch gegeben. Je nach Gesetzestext werden intersexuelle Menschen ausgeschlossen, die in Deutschland nicht mehr zwangsläufig ein Geschlecht zugewiesen bekommen. Eine vermeidbare Situation, würden Gesetze rund ums Thema Geschlecht endlich durchdacht.

Wie Lena Schimmel gestern auf Twitter anmerkte, heißt es im Entwurf des Bundesrats von 2015:

Die Ehe wird von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen.

Mit dieser Formulierung wird voausgesetzt, dass es zwei (oder mehr) Geschlechter gibt und Personen eines davon haben. Bereits 2013 wurde allerdings das Personenstandsgesetz (PStG) § 22 Fehlende Angaben um den folgenden Absatz ergänzt:

(3) Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen.

Dass die Änderung des Personenstandsrechts Intersexen gar nichts bringen könnte, hatten Betroffene nach der Änderung bereits kritisiert. Keinen Geschlechtseintrag zu haben könne Kinder stigmatisieren. so die Befürchtung. Die Gesetzesänderung beruhte auf der Empfehlung des Deutschen Ethikrates – die allerdings eine dritte Geschlechtskategorie vorsah sowie die Möglichkeit, Kindern kein Geschlecht zuzuweisen, bis sie sich selbst entschieden hätten. Anschließend, fast auf den Tag genau vier Jahre her, lehnten CDU/CSU und die FDP Oppositionsanträge ab, mit denen SPD, Grüne und Linke kosmetische Genitaloperationen an Kinder verbieten und die Praxis historisch aufarbeiten wollten – zwei Hauptforderungen der Intersexen-Bewegung.

Was also ist mit Personen, die keine Angabe zum Geschlecht machen können oder wollen? Damals merkte die taz an, es seien in der nächsten Legislaturperiode sicher einige Gesetze anzupassen, die bisher nur von Männern und Frauen sprachen. Nun sind wir am Ende dieser Periode angelangt und es wird deutlich, dass seither nichts passiert ist. Noch viel schlimmer: Wird der Gesetzestext so verabschiedet, wird ausgerechnet beim Schlagwort der Ehe für ALLE ein Teil der Bevölkerung vergessen. Da war die vorige Bezeichnung „Homo-Ehe“ noch deutlich ehrlicher. Die gibt es übrigens bereits seit neun Jahren in Deutschland, weil Teile des Trans­sexuellen­gesetzes wie Zwangsscheidungen nicht mehr angewendet werden dürfen. Auch hier wird seit 12 Jahren rund um das Thema Geschlecht nur stückchenweise und ohne Rücksicht auf Betroffene reformiert.

Dieses schrittweise, gern widersprüchliche Vorgehen ist umso ärgerlicher, weil es immer wieder um dieselben Menschenrechte wie Gleichbehandlung, körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung geht. Sie müssen wiederholt eingefordert werden, statt sie einmal universell umzusetzen und sich danach viele Probleme zu ersparen.

Aber was soll man erwarten, wenn eine Gesetzesänderung nur kommt, weil die Kanzlerin bei einem Medientalk eine Publikumsfrage beantwortet?

[PS: Neben dieser Kritik gibt es bei „Ehe für alle“ auch die Frage nach rechtlicher Absicherung polyamorer oder nicht-romantischer Beziehungen.]

[PPS 1.7.17: Der Ratgeber des Lesben- und Schwulenverbands weist darauf hin, dass verheirateten Frauen nicht automatisch beide als Eltern eingetragen werden, wenn sie ein Kind bekommen. Dagegen sind Männer automatisch Väter, wenn ihre Frau ein Kind bekommt, ungeachtet der biologischen Zeugung.]

Sozialwahl 2017: Warum sollte ich da mitmachen?

Wir müssen über die Sozialwahl reden. Nicht einmal jede_r dritte Wahlberechtigte nimmt an der Wahl teil. Und ich kann es sehr gut verstehen, denn neben viel Aufklärung über den Wahlablauf gibt es quasi keine Informationen über Wahlinhalte.


Bis zum Ende des Monats läuft die Sozialwahl, bei der im Sinne einer Selbstverwaltung die Versicherten von Kranken- und Rentenversicherung Vertreter_innen in die jeweiligen Parlamente (Verwaltungsrat oder Vertreterversammlung) wählen. Diese bestimmen wie im Bundestag zum Beispiel über den Haushalt oder kontrollieren die Vorstände (wie der Bundestag die Regierung).

Die aktuelle Wahl ist die erste, bei der ich wahlberechtigt bin. Und nennt mich naiv, aber ich hatte Hoffnung, da tatsächlich eine informierte Wahl zu treffen. Eines meiner Anliegen ist bekanntlich die Situation in der deutschen Geburtshilfe, die sehr eng mit der Vergütungspolitik der Krankenkassen verbunden ist. Am Freitag wird über wieder einmal die Schiedsstelle entscheiden, wie es hier weiter geht.

Als Erstes habe ich daher auf der Seite zur Sozialwahl nach dem Stichwort „Hebamme“ gesucht. Da kommen genau drei Einträge. Zwei davon stehen auf persönlichen Seiten von einzelnen Personen und ob sie wirklich zur Wahl stehen, wird nicht deutlich. Bei Beiden geht es darum, dass Hebammenrufbereitschaft wichtig sei. Klasse. Aber mehr steht da leider nicht. Eine Person kann ich eh nicht wählen.

Die dritte Seite ist die Themenseite „Schwangerschaftsvorsorge“. Die Beispielkrankenschwester war für die Vorsorgeuntersuchungen bei einer Ärztin. Außer dem wiederholten Hinweis auf ihre Rufbereitschaft kommen Hebammen nicht vor. Weder wird aufgezeigt, dass sie mit Vorsorge, Geburtsbegleitung und Nachsorge eine Rundumbetreuung bieten könnten, noch die aktuell schwierige Situation und mögliche Maßnahmen erläutert. Umso merkwürdiger, wenn mehrfach auf die Wichtigkeit von Aufklärung und Beratung zu Standard- und Zusatzleistungen abgehoben wird.

Auf den Seiten der einzelnen Listen fehlen ebenfalls Wahlprogramme, im Sinne von: mehr als Absichtserklärungen. Sucht man weiter im Internet, etwa auf Nachrichtenseiten, findet sich ein ähnliches Bild wie auf sozialwahl.de: Wenn die Wahl mal Thema ist, wird doppelt und dreifach erklärt, dass es eine Briefwahl sei, wann gewählt werden kann und wie wichtig die Mitbestimmung sei. Informationen darüber, was in den letzten Jahren in diesen Gremien passiert ist, wer welche Entscheidungen vorangetrieben hat, welche Themen unbearbeitet blieben? Fehlanzeige.

Also Butter bei die Fische: So kann ich keinen Einfluss nehmen, wie es überall versprochen wird. Welche Liste sich wie für mich einsetzen wird, wer am ehesten meine Interessen vertritt und Maßnahmen umsetzen möchte, die ich als sinnvoll erachte – das wird nicht deutlich. Es ist eine Wahl ohne Inhalte, ohne Strategien, ohne Berichterstattung an die Wähler_innen. Warum also sollte ich da wählen?

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Statt guter Ratschläge: Ich habe vor einigen Tagen die Listen angeschrieben, die bei meiner Krankenkasse zur Wahl stehen. Bisher habe ich eine nette und ausführliche Antwort der IG Metall bekommen, die meine Ziele teilen, aber zu sinnvollen Maßnahmen vage bleiben. Dass jetzt Millionen von Wahlberechtigten die Listen anschreiben, ist eine top Idee, aber keine langfristige Lösung.

Das gleiche gilt, wenn es ums Engagieren geht. Top Idee, kann aber nicht jede_r leisten.

Pussyhats und mehr – eine Protest-Sammlung zum Mitmachen

Nicht nur Twittern, auch Bloggen? Hier sind einige Anregungen, die Symbole aktueller Politikproteste in den Alltag mitzunehmen. Alles schon mal getwittert, jetzt zusammengestellt im Blog.

Der Pussyhat zum Selberdrucken

Eine Pussyhat-Vorlage für 3D-Drucker hat Josh Ajima erstellt und auf Thingiverse zum Download bereit gestellt.
Eine Gruppe an Lego-Figuren mit rosa Pussyhats und einem Protestschild mit dem Venus-Spiegel, dem "Frauenzeichen".

#shepersisted sticken

Alternativ gibt es eine Pussyhat-Stickvorlage von Haley Pierson-Cox, inklusive #shepersisted. Das Meme entstand, als der republikanische Fraktionsführer Mitch McConnell der demokratischen Senatorin Elizabeth Warren verbat, einen Brief von Coretta Scott King vorzulesen. Die Bürgerrechtlerin (und Frau von Martin Luther King) sprach sich darin gegen die Ernennung von Jeff Sessions zum Bundesrichter aus. Nun ging es um seine, letztlich erfolgreiche, Ernennung zum Generalstaatsanwalt.

Eine Stickvorlage mit dem Text "Nevertheless, she persisted" und darunter fünf verschiedenen, gestickten Figuren mit rosa Pussyhats-

Der Pussyhat für Slack

In der Wikipedia ist inzwischen ein Emoji mit Pussyhat (Lizenz: CC BY-SA 4.0 von CFCF) aufgetaucht. Das Motiv unten habe ich für den Messenger Slack als Custom Emoji zurecht gebastelt. So klappt’s mit dem Einbinden in eigene Slacks.

Gelbes Emoji mit roten Wangen und rosa "Pussycat" mit zwei Katzenohren

an.schläge-Protestsongs

In der aktuellen anschläge gibt es eine Playlist mit Protestsongs. Die habe ich, soweit vorhanden, in eine Spotify-Liste aufgenommen (dieser Link sollte gehen, auch wenn das Widget unten nicht mag).

PS: Noch eine #shepersisted-Stickvorlage

Auch Comic-Zeichnerin Erika Moen hat eine Stickvorlage veröffentlicht und bittet dafür um eine Spende an die International Women’s Health Coalition. Danke an @TheRosenblatts für den Hinweis.

Eine Stickvorlage mit drei Disteln, darüber die Aufschrift "Nevertheless, she persisted."

Hebammendebakel 2015

[Anmerkung zum Inhalt: Es geht auch um Gewalt bei Geburten.]

Hallo und herzlich Willkommen zur wiederholten Ausgabe von „Es ist Internationaler Hebammentag und in Deutschland sieht die Lage beschissen aus“. Wie genau die aussieht, ist in den vergangenen Tagen in den Medien unüberraschend eher unter­gegangen*, aber es gibt eine neue Petition. Es muss also scheiße sein. Trotzdem ließe sich bequem der Artikel von 2014 recyclen (inklusive Vorrats­daten­speicherung!):

Ich musste mir anhören, dass „das Problem bekannt sei“ und dass das bereits es „ein Erfolg sei“. Stattdessen hat dieses Land in den letzten vier Jahren ein Leistungs­schutz­recht bekommen, die grundgesetzwidrige Vorrats­daten­speicherung kehrt wie ein Zombie jährlich auf die politische Agenda zurück und die Praxis­gebühr wurde abgeschafft. Wo ein Wille ist, da ist ein Weg – das demonstrierten uns die Regierungen immer wieder eindringlich.

Bei den Hebammen fehlt der Wille. Daran änderte die Rekord-Petition 2010 im Bundestagssystem so wenig wie über 400.000 Zeichnungen letztes Jahr bei Change.org. Denn bei den Hebammen zeigt sich, wie kaputt unser Gesundheitssystem ist, weil Wirtschaftlichkeit vor Menschenwürde geht.

In die Individualität und Intimität des Gebärens wird durch die begründete Angst vor Schadens­ersatz­forderungen bei „Norm­abweichungen“ heute oft eingegriffen – seitens der Krankenhäuser und seiner[sic] Mitarbeiter_innen. In der aktuellen Verhandlungsrunde rückt dies weiter in den Fokus. Die Kranken­kassen wollen die Leistungs­übernahme bei Geburten außer­halb von Krankenhäusern reduzieren und an Auschluss­kriterien knüpfen. Wissenschaftlich abgesichert sind die diskutierten Vorschläge nicht, sondern Verhandlungs­masse im Konflikt von Krankenkassen und Verbänden. Vor allem werden sie den Entscheidungs­spielraum der Hebammen und Gebärenden stark eingrenzen. Gesucht wird Rechtssicherheit durch quantifizierbare Auflagen statt individueller Geburtsbegleitung.

Dass es um Würde geht, zeigen gerade wieder** die Geburtsgeschichten, die Eltern und Hebammen teilen. So begann es bei von guten Eltern:

Meist dominierten aber Angst und Zeitdruck das Geschehen. Und Angst vor wirklichen Katastrophen, vor Klagen oder auch „nur“ von der Rechtfertigung in der morgendlichen Teambesprechung. Auch ich habe Frauen mitten im guten Geburtsverlauf aus der Wanne “gezerrt”, weil der Oberarzt im Dienst war, der keine Wasser­geburten mochte. Ich habe Frauen zum Kaiserschnitt vorbereitet, obwohl ich sehr sicher war, dass mit etwas mehr Zeit und Ruhe dieses Kind sicher spontan geboren werden kann. Ich habe Wehentröpfe angehängt, die der Beginn von Interventions­kaskaden waren, die viel zu oft in einer operativen Geburt endeten. Ich habe Geburts­einleitungen mit begleitet, für die es keinen wirklich medizinischen Grund gab, das Kind schon so früh auf die Welt zu schubsen. Ich habe das getan, was so viele Kolleginnen tagtäglich tun: Entscheidungen mitzutragen, die sie innerlich nicht vertreten können. Aber es gibt Leitlinien, Anordnungen von Ärzten, finanziellen Druck von der Krankenhausleitung. Viele Dinge, die die Geburt beeinflussen und vor denen wir die uns anvertrauten Frauen als Hebammen immer schwieriger beschützen können.

Und es geht weiter in den Kommentaren:

Ich bin selbst Hebamme und arbeite in einer großen Klinik. All das was du beschreibst kenne ich sehr gut und auch mir zerreißt es manchmal das Herz. Die Frau die mich anfleht den Kreißsaal nicht mehr zu verlassen, weil sie Angst hat und ich muss trotzdem gehen, weil im Nebenraum die andere Frau ebenfalls gerade presst. Die Frau die weinend auf dem OP Tisch hockt weil ihre Geburt nach unendlichen langen Stunden nun doch im Kaiserschnitt endet.

Bis hin zu richtig üblen Erzählungen***:

Ich sitze hier mit Tränen im Gesicht und meiner 5 Monate alten Tochter im Arm.
Ich oder viel mehr wir, mein Mann, meine Tochter und ich, brauchten lange um die Geburt zu verarbeiten. Schön und besonders war sie nicht auch nur im geringsten. Ich hatte so viele Menschen, die ihre Hände in mich hinein steckten, dass ich es irgendwann akzeptierte und nach 12 Std im Kreissaal, war es irgendwann auch egal. Man hat mir einen Tropf und eine Spinalanästhesie gelegt, obwohl ich mein Kind ohne jegliche Hilfe gebähren wollte und man hat sie so aus mir heraus gedrückt, dass ich noch Tage später Schmerzen am Rippenbogen hatte und meine Tochter ein gebrochenes Schlüsselbein. Man hat meine Beine wie Hebel benutzt, also wolle man das Kind heraus hebeln.

Nicht erst bei derartigen Gruselstories erscheint die Geburtshilfe immer mehr wie eine Geburtsindustrie, die möglichst günstig und berechenbar ablaufen soll. Dagegen ändert sich das Feld der Schwangeren deutlich. Bevorzugt fortzupflanzen hatten und haben sich gebildete, heterosexuell verheiratete, körperlich und geistig gesunde, weiße Frauen – aber dieses Bild ist heute noch weniger repräsentativ, als es je war.

Transmänner dürfen endlich schwanger werden (und Transfrauen Kinder zeugen). Viele Schwangere sind eh unverheiratet. Gleichgeschlechtliche Paare gründen Familien, es gibt Co-Elternschaft, es gibt Schwangere mit Behinderungen. Von guten Eltern verweist noch auf die Frauen, die bereits sexualisierte Gewalt erfahren haben und bei einer Geburt retraumatisiert werden könnten.

Wenn wir all diese Eltern würdig behandeln wollen und ihren Babies einen guten Start ins Leben geben wollen, dann brauchen wir individuelle Betreuung, Zeit und geschultes Personal. Das kostet Geld. Die Frage ist, ob unser Nachwuchs uns das wert ist.

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* Weder bei der tagesschau, noch Spiegel Online oder der taz lässt sich mit dem Suchwort „Hebamme“ ein Artikel zur aktuellen, gescheiterten Verhandlungsrunde mit den Krankenkassen finden.

** Ebenfalls medial unbeachtet wurde vor einem Jahr über #selbstgeboren diskutiert.

*** Über Geburtstauma gibt es tatsächlich einen fast aktuellen Artikel bei Spiegel Online, der allerdings keine Übergriffe dokumentiert und stattdessen das Problem auf die Gefühle der Schwangeren reduziert. Aber hey, immerhin wird anerkannt, dass es Probleme gibt, Fortschritt und so.

„Mehr Kernthemen, weniger Refugees“?! Ein #Piraten-Text

Während die AfD trotz interner Streitereien und peinlicher Vorgänge ein Rekordergebnis auffährt, bleiben die Piraten bei der Europawahl hinter den selbst-gesteckten Erwartungen zurück. Nun tönt es „weniger Refugees/Flüchtlingspolitik“ und „mehr Kernthemen“. Das, liebe Piratenmenschen in Deutschland, ist keine Parole für die Zukunft, es ist seit Monaten Eure Linie und es ist genau Euer Problem.

Ihr wollt alles anders und besser machen, als andere Parteien. Ihr wollt transparent sein und stehen bleiben, wo andere umfallen. Dafür haben Euch in Berlin sehr viele Menschen gewählt. Aber „weniger Flüchtlingspolitik und mehr Kernthemen“ steht entweder für Intransparenz oder fürs Umfallen, im schlimmsten Fall für beides.

Eure Kernthemen scheinen, pauschal zusammengefasst, weniger Überwachung und mehr Datenschutz, um Menschen ein selbstbestimmtes, „freies“ Leben zu ermöglichen. Wenn ihr konsequent seid, dann gilt das eben nicht nur im Internet, für all uns Leute mit der Kohle für Laptop, Smartphone und Flatrate, sondern auch da draußen. Für alle Menschen. Wenn Euch ärgert, dass Ihr bei YouTube nichts gucken dürft, weil in Deutschland alles gesperrt ist, dann gehört da auch zu, dass menschenfeindliche Asylbedingungen und rassistische Passkontrollen. Das kommt vom gleichen Misthaufen.

„Jaha,“ werden nun einige sagen, „das ist ja auch doof. Aber müssen wir unsere Positionen gleich an die große Glocke hängen?“ HALLO MERKT IHR’S NOCH? Maulkörbe, Mauscheleien und größt-mögliche Intransparenz, damit irgendwo uninformierte Bürgerinnen und Bürger das Kreuzchen für Euch setzen?

Was Ihr jetzt machen müsst, ist Euch zu entscheiden, liebe Parteimitglieder. Ihr könnt heute gegen die Länderbeschränkungen bei YouTube kämpfen und morgen dann bei iTunes und übermorgen bei Mega Quizduell, in dem nur noch Deutsche mit Passverifikation antreten dürfen. Weil ihr die grundlegenden Mechanismen übersehen habt und stattdessen gegen Windmühlen kämpft. (So läuft das übrigens gerade bei ACTA, TTIP und was noch alles kommen wird.) Dazu könnt ihr dann am Infostand noch flüstern, dass rassistische Anmachsprüche irgendwie doof wären und beim nächsten Vorfall würde vielleicht was passieren.

Dann seid Ihr umgefallen und niemand hats gesehen. Vermutlich guckt auch einfach niemand mehr hin, denn solche Politik haben wir genug, dafür brauchen wir nicht noch eine Partei.

Oder Ihr denkt Eure Positionen zu Ende und vertretet die konsequent – innen und außen, auf der Straße und im Internet. Mit @senficon habt Ihr eine Abgeordnete, der ich das tatsächlich zutraue. Ich wünsche Ihr, dass Ihre Partei es ihr nachmacht.

Die dunklen Ecken in der Diskussion um befristete Verträge

Als Mitarbeiterin an einer Uni, einer notorisch auf befristete Verträge setzenden Arbeitgeberin, ist die derzeitige Diskussion um ebensolche inzwischen ein Witz. Das Problem sind doch nicht die fiesen Menschen, die nur befristete Verträge machen, obwohl sie auch unbefristete machen könnten. Viel öfter ist doch das Problem, dass es für unbefristete Verträge gar kein Geld gibt. Alles ist projektiziert worden, von der Forschung bis zur Univerwaltung. Anschubfinanzierungen, Drittmittelprojekte, plötzliche Überschüsse mit Verfalldatum – all das sind Faktoren, die vermutlich mehr zur Befristungsmisere beitragen als jeglicher Missbrauch. Allerdings auch Faktoren, die nicht geändert werden sollen und können, weil sie die grundlegenden Bausteine des Systems geworden sind.

In jeder Diskussion zu befristeten Verträgen kommt irgendwann „wenn nicht mehr Geld da ist, dann müssen Befristungen natürlich weiter möglich sein“. „Sachgrundlose“ Befristungen zu verbieten wird nicht helfen, weil die meisten Befristungen einen Sachgrund haben und das sind nicht nur Schwangerschafts-, Elternzeit- oder Krankheitsvertretungen. Dass genau diese Punkte immer hervorgehoben werden, entbehrt auch nicht einer gewissen Ironie, wenn mensch bedenkt, dass zwei besonders durch Arbeitnehmerinnen „verursacht“ werden. Die dann wiederrum gerade an Unis häufiger als Männer befristet beschäftigt sind. Welche Punkte in dieser Debatte ausgeblendet und welche betont werden, ist auch Teil des Systems.

Die Empörung über die Witze über #Neuland

Diese Menschen auf Twitter. Erst haben sie sich über die Aussage von Angela Merkel, das Internet sei für uns alle Neuland, witzig gemacht. Dann mahnen sie an, dass es genügend Leute gebe, für die das Internet tatsächlich Neuland sei und Witze über die Aussage unangebrachter Hohn seien.

Welch sinnloser Empörungskontest, der am Ende genau das macht, was er kritisiert: Menschen ausblenden und sich selbst, als Twitter-Nutzer_innen in den Mittelpunkt stellen. Auch, und gerade außerhalb von Twitter, haben sich viele Menschen, die seit Jahren das Internet nutzen, von der Kanzlerin verarscht gefühlt. Das Dudelfunk-Radio hat Witze über „Google ist dann Neufundland“ gemacht.

Die Aussage von Merkel war, ausnahmsweise aber vermutlich für sie überraschend, hoch gepokert. Weil sie darauf gesetzt hat, dass das Internet für viele Neuland sei, ganz besonders unter ihren Wähler_innen. Und dabei unterschätzt hat, dass eben nicht nur die Twitter-Avantgarde ohne ihre Smartphones, Laptops und jederzeit verfügbares Internet völlig hilflos wären. Sondern inzwischen die Mehrheit der Bevölkerung.

Das Internet ist für uns alle Neuland, und es ermöglicht auch Feinden und Gegnern unserer demokratischen Grundordnung, mit völlig neuen Möglichkeiten und völlig neuen Herangehensweisen unsere Art zu leben in Gefahr zu bringen.

Auch die Einordnung des gesamten Zitats, wie Peter Glaser es macht, geht am Kern des Problems vorbei. Die ganze Welt ist in einem Überwachungsrennen gefangen, wer noch mehr Mails noch schneller auswertet, und Merkel entschuldigt das mit „sorry, wir üben noch“. Von ihr, die sonst souverän mit vielen Worten nichts sagt, war das ein deutlicher verbaler Missgriff.

Schließlich gilt es zu bedenken, warum ein Viertel der Deutschen sich dem Internet inzwischen seit Jahren verweigert: Datenschutz- und Sicherheitsbedenken. So sehr Merkel dies vermutlich aufgreifen wollte – mit dem Auffliegen von Prism und den eigenen Bemühungen, den Datenverkehr im Internet noch stärker zu überwachen, wird sie diese Gruppe nicht erreichen.

Für’s nächste Mal also: bitte nur noch gelungenen Sarkasmus und weniger Twitter als Mittelpunkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen.